In seiner ersten Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 polemisierte Bundeskanzler Helmut Kohl gegen einen "anonymen bürokratischen Wohlfahrtsstaat", der die Menschen einander entfremdet habe. Abhilfe solle, so Kohl weiter, "mehr Selbsthilfe und Nächstenhilfe der Bürger füreinander" schaffen. Aber erst das 1998 ins Amt gekommene Kabinett Schröder/Fischer stellte die bisherigen sozialstaatlichen Traditionen der Bundesrepublik grundsätzlich in Frage. "Das sogenannte Schröder-Blair-Papier von 1999", schreibt die Politologin Claudia Pinl, "lieferte die ideologische Rechtfertigung für den Rückzug des Staates von der Aufgabe, die Gesellschaft zu gestalten und für sozialen Ausgleich zu sorgen. Nicht staatliche Regelungen oder gar ein Rechtsanspruch der Schwachen auf öffentlich finanzierte Dienste, so die Argumentation Schröders und Tony Blairs, Wegbereiter von New Labour, wiesen die 'neuen Wege zur sozialen Gerechtigkeit'. Diese lägen vielmehr in der individuellen Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft jedes Menschen. Das 'Sicherheitsnetz aus Ansprüchen' des alten Wohlfahrtsstaates solle in ein 'Sprungbrett in die Eigenverantwortung umgewandelt werden'."
In den nachfolgenden Jahren der Schröder-Ära wurde dieses Programm durch Steuer-senkungen für Unternehmen und Besserverdienende, durch Privatisierungen im Gesundheitswesen sowie durch die Teilprivatisierung der gesetzlichen Altersvorsorge umgesetzt, vor allem aber durch die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und die drastische Einschränkung der Unterstützung für Langzeitarbeitslose (Agenda 2010). Dies führte bei breiten Bevölkerungsschichten zu einer massiven Verschlechte-rung der Lebenssituation, während gleichzeitig der Zugang zu Sozialleistungen des Staates erschwert wurde. Durch die Steuersenkungen zu Gunsten von Unternehmen und Reichen wurde auch die wirtschaftliche Basis der Kommunen und damit die kommunale Infrastruktur in Mitleidenschaft gezogen. Schwimmbäder, Bibliotheken und Museen wurden geschlossen, fehlende öffentliche Aufträge und sinkende private Kaufkraft schwächten die mittelständische Wirtschaft.
Und so geht es weiter mit dem neoliberalen Wahnsinn: Der durch Einnahmeverzicht ohne Not verarmende Staat verramscht zunächst einmal die Filetstücke des eigentlich den Bürgern gehörenden öffentlichen Eigentums (z.B. den öffentlichen Wohnungsbe-stand). Den Rest (Straßen, Brücken, Kanalisation, Schulen) lässt er verkommen und entledigte sich anschließend der Daseinsvorsorge durch Privatisierung möglichst vieler Aufgabenbereiche. Soziale Dienstleistungen werden privaten Anbietern übertragen, die diese zu unter Marktbedingungen gebildeten (Niedrig-)Preisen erbringen und von den "Kunden" (Bürgern) privat bezahlt werden, soweit es deren Einkünfte überhaupt zulassen.
Wer mehr will als die unter solchen Bedingungen zwangsläufig entstehende Minimal = Schlechtversorgung, kann sich dieses "Mehr" privat kaufen (private Kindertagesstätten, Privatschulen, private Wohnparks, Luxus-Pflegeheime, private Krankenversicherung usw.). Um ein ausreichendes privates Angebot zu fördern, unterläuft der Staat die eigene Verfassung und hebt beispielsweise die Restriktionen bei der Errichtung privater Grundschulen oder das Verbot der Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern für Privatschulen gem. Art. 7 (4) GG auf. Bestimmte allgemeine Risiken wie Alter/Krankheit/Pflegebedürftigkeit werden schleichend (Rente/Einschränkungen der Leistungen der KV) oder von vornherein (Pflegeversicherung) in Teilkasko-Modelle verwandelt, wo trotz hoher Beiträge immer noch zugezahlt werden muss. Stationäre Betreuungsformen werden verkürzt (siehe Krankenhausaufenthalte nach OPs) oder durch "Ambulantisierung" auf unterschiedliche (private) Leistungs-Segmente aufgeteilt. Analog dazu wird die Entstehung neuer Dienstleistungen (Agenturen für Haushalts-hilfe, Tagespflege-Einrichtungen usw.) sowie "niedrigschwelliger" Pflegeberufe (Senioren-Assistenten o.ä.), die aber kaum ihre Kosten erwirtschaften bzw. von denen niemand leben kann, staatlicherseits propagiert und gefördert, ein flächendeckendes Angabot aber den "Marktkräften" überlassen.
Zur Schließung von Angebotslücken als Folge des neoliberalen Gesellschaftsumbaus zu Gunsten der ohnehin schon wirtschaftlich Privilegierten sucht man das Ehrenamt zu beleben. Hierzu dient die so genannte "Engagementpolitik". Die Grundidee: Die Teile früherer Grundversorgung, die man künftig nicht mehr vorhält oder für die das Fach-personal fehlt, angefangen von der Kita bis zum Senioren-Pflegeheim, werden durch "freiwillige" oder "ehrenamtliche" Arbeit abgedeckt. Zum Teil für ihre Aufgaben aufwändig geschult und mit klingenden Bezeichnungen wie "Pflege-Begleiter" oder "Demenz-Pate" betitelt, teilweise aber auch mit nichts ausgestattet als gutem Willem und liebem Bemühen, "entlasten" sie Pflegeprofis oder Pflegende Angehörige, die nicht so belastet sein müssten, wie sie es sind, wenn man durch gute Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen für ausreichenden Berufsnachwuchs sorgen oder ihre Lage durch Leistungen einer kostendeckenden Pflege-Vollversicherung (z.B. für Tagespflege) verbessern würde. Zusätzlich sollen diese Ehrenamtlichen "für umme" und trotz gegenläufiger gesellschaftlicher Tendenzen das an "sorgenden Gemeinschaften" ersetzen, was Familien, Dorfgemeinschaften, Kirchengemeinden usw. längst nicht mehr bieten. Auf diese Weise sollen dann beispielsweise Senioren so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden wohnen bleiben und die Kosten stationärer Pflege, die im Zweifelsfall das Sozialamt übernehmen müsste, eingespart werden können. Oder die "Gemeinschaft" kümmern sich mal eben - "Wir schaffen das!" - um ein paar Hundert-tausend Flüchtlinge, die plötzlich vor ihren noch unfertigen Massenunterkünften stehen und im Dezember noch keinen Wintermantel haben. Und auch an der "Integration", von denen Politik und Verwaltung keinen Plan haben und die vielfach überhaupt nicht gelingen kann, versuchen sich Laien.
Dabei mangelt es - allem Politiker-Gewinsel zum Trotz - keineswegs an Geld. Sogar unter den gegebenen Bedingungen - der sog. "Mittelstand" wird ja gnadenlos geschröpft, während man sich vielleicht mal überlegen sollte, wo denn die Mitte zwischen einem Hartz IV-Empfänger und den Spitzenverdienern dieser Republik tatsächlich liegt - quellen derzeit die Steuerschatullen der Finanzminister über. Holte es der Staat endlich von denen, die er ungerechterweise schont - es wäre auf lange Sicht "Geld da wie Dreck" (Heiner Geißler), um jede notwendige Sozialleistung in diesem Staat zu finanzieren.
Von daher werden die vielen freiwillig Engagierten, die man mit dem durch politische Unfähigkeit und Begünstigung der Reichen produzierten Elend moralisch zusätzlich unter Druck setzt, von den verantwortlichen, aber selten verantwortlich zu machenden Politikern lediglich hinter die Fichte geführt. Das Ehrenamt wird häufig genug als unbezahlte Erwerbsarbeit missbraucht, wie aus dem Bundesnetzwerk Bürgerschaft-liches Engagement verlautet.
Ehrenamtliche Arbeit ist gut und notwendig, denn es gibt zu vieles, um das man sich kümmern muss, weil die, die sich zu kümmern hätten, es eben nicht tun. Doch mit der "Engagementpolitik" wächst die Gefahr, dass die "Freiwilligen" als nützliche Idioten missbraucht werden, über die die Reichen beim Austernschlürfen mitleidig lächeln. Darum plädiert Martin M. Textor für eine Hilfeleistungsgesellschaft ohne Ehrenamt:
"Wie könnte das Problem fehlender Pflegekräfte und steigender Ausgaben der Pflegever-sicherung zumindest ein wenig gemildert werden? Eine Lösung könnte sein, dass rüstige Senior/innen behinderte und pflegebedürftige Menschen unterstützen und als Gegenleis-tung dann ihrerseits Hilfe durch andere Menschen erfahren, falls sie in fortgeschrittenem Alter in eine ähnliche Situation kommen sollten. Um zu verhindern, dass hier die Gutmütigkeit einzelner Senior/innen ausgenützt wird, sollte dies nicht durch ehrenamtliches Engagement, sondern auf Grundlage einer "Pflegebörse" erfolgen: Für einzelne Dienstleistungen wie das Einkaufen für Senior/innen, die nicht mehr das Haus verlassen können, das Zubereiten von Mahlzeiten, das Besorgen der Wäsche, die Reini-gung der Wohnung, das Abholen und Begleiten zu Arztterminen usw. wird ein jeweils unterschiedlicher Wert gut geschrieben. Der im Verlauf der Zeit erworbene "Kredit" kann dann später abgerufen werden, wenn die jeweilige Person selbst behindert oder pflegebe-dürftig werden sollte."
Eine andere Möglichkeit, der Ausbeutung ehrenamtlich Tätiger einen Riegel vorzu-schieben, besteht in einer stärkeren Monetarisierung ehrenamtlicher Arbeit, zu der ohnehin eine deutliche Tendenz zu bestehen scheint. Denn ehrenamtliche Arbeit muss man sich leisten können. Und viele Arme oder von Altersarmut Betroffene können sie sich nicht leisten, da oft nicht einmal voller Auslagenersatz stattfindet. Von daher kann es gute Gründe für eine Vergütung gemeinschaftsdienlicher Arbeit mindestens zum Mindestlohn geben, die von der Schaffung von Anreizen bis zu Verdienstmög-lichkeiten von Engagierten in prekären Lebensverhältnissen reichen.
Vielleicht sollten Ehrenamtliche bei der Auswahl ihres Einsatzgebietes auch einfach ein stärkeres Maß von Eigensinn an den Tag legen, wie Stefan Würz und Julia Sipreck dies auf einem Workshop im Rahmen der Bagfa Jahrestagung 2014 sehr überzeugend ausgeführt haben. Der freiwillig Engagierte ist kein infantiler Volltrottel, der für ein paar warme Worte, Blumenstrauß und Händedruck fremden Interessen "dient". Und notfalls kümmert er sich mal nicht um "unseren kranken Nachbarn auch", sondern - ehrenamtlich, versteht sich - um das Einsammeln faulen Gemüses, mit dem dann andere "Ehrenamtliche" als Empfangskomitee vor millionenteuren Kulturtempeln ihre Aufwartung machen können, wo würdige Vertreter der deutschen Eliten in festlicher Garderobe ihren schweren Limousinen entsteigen, um sich selbst dafür zu feiern, dass sie das deutsche Rentensystem und die Sozialsysteme ruiniert haben und dabei sind, der relativen Armut unserer gespaltenen Gesellschaft nun auch noch die Dritte-Welt-Armut der Flüchtlingsmassen zu implantieren.
Ulrich Lange