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Nachbarschaften mobilisieren


Es gibt immer wieder neue Ideen, die Nachbarschaften für soziale Aufgaben zu mobilisieren. Eine kam vor einiger Zeit aus dem Kreisseniorenbeirat des Vogelsbergkreises (Link zur Quelle), die ich hier dokumentieren und kommentieren möchte:

Nachbarschaftsquartiere gegen die Vereinsamung

"Wir wissen, dass auch bei uns auf dem Land oft Fälle trauriger Vereinsamung vorkommen - nicht nur Verkehrswege und Verkehrsmittel sind in unserem Flächenkreis für Senioren problematisch."

Dr. Bernd Liller, Vorsitzender des Kreis-Seniorenbeirats, stellte diese Worte seinem Vortrag zum Thema "Nachbarschaftsquartier" voran. Er regte ein Projekt an, bei dem es unter anderem darum gehen soll, sich in überschaubaren Räumen - eben einem Nachbarschaftsquartier - wieder näher zu kommen und einen vertrauteren Umgang miteinander zu pflegen. Er bat seine Kolleginnen und Kollegen im Kreis-Seniorenbeirat darum, sich in ihrer jeweiligen Kommune nach geeigneten "Pilot-Quartieren" umzuhören und umzuschauen, mit denen in ein solches Projekt gestartet werden könnte. Dort sollten dann zunächst Befragungen anhand eines Fragebogens stattfinden, um die nachbarschaftlichen Verhältnisse mit allen positiven und negativen Punkten auszuloten und das Interesse an Nachbarschaftstreffen o. Ä. abzufragen. Weitere Themen im Kreisseniorenbeirat waren die Kurzberichte der Vertreterinnen und Vertreter über die Aktivitäten in den einzelnen Kommunen wie zum Beispiel Seniorennachmittage, gemeinsame Ausflüge oder Informations-veranstaltungen zu Fahren im Alter, zu Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung oder den Vortrag der Polizei zum sogenannten "Enkeltrick".

Mein Kommentar:

Wichtiger Impuls des Kreisseniorenbeirats

Einsamkeit ist die neue Armut. Was Dr. Bernd Liller, inzwischen ehemaliger Vorsitzender des Vogelsberger Kreis-Seniorenbeirats, hier vorschlägt, nämlich in geeigneten „Pilotquartieren“ die nachbarschaftlichen Strukturen zu beleben, um „Fälle trauriger Vereinsamung“ vermeiden zu können, stellt angesichts der Auswirkungen des demografischen Wandels einen wichtigen Impuls dar, um auch die ländlichen Regionen weiterhin als „Lebensräume“ attraktiv zu gestalten und auf der Grundlage des bürgerschaftlichen Engagements (der Staat kann schließlich nicht alles leisten!) Lücken der Daseinsvorsorge zu schließen.

Ich halte es allerdings für notwendig, sich im Vorfeld der Realisierung künftiger Pilotprojekte – etwa im Rahmen einer „Initiativgruppe“ – über den richtigen Weg zur praktischen Umsetzung auszutauschen. Statt sich lediglich in den jeweiligen Kommunen „nach geeigneten Pilot-Quartieren umzuhören“, sollten plausible Kriterien für deren Vorauswahl entwickelt werden. In den Pilot-Quartieren dann „zunächst Befragungen anhand eines Fragebogens“ durchzuführen, „um die nachbarschaftlichen Verhältnisse mit allen positiven und negativen Punkten auszuloten“, könnte sich als folgenschwerer Fehler erweisen, der den ausgezeichneten Handlungsansatz Dr. Lillers unnötig kompliziert. Schon die Entwicklung eines Fragebogens, der am Ende valide Ergebnisse erbringt, erfordert ein Höchstmaß an Expertenwissen.


Fragenkataloge zur Selbstbewertung ergeben ohnehin kein objektives Bild der Ver-hältnisse, mit denen dann konstruktiv gearbeitet werden könnte. Meine Anregung wäre, in den bereits nach den Kriterien einer zu vermutenden Vereinsamungs-problematik (hoher Anteil alleinstehender Senioren, allein Lebender jeden Alters usw.) ausgewählten Quartieren mit Hilfe der dort verankerten Institutionen (Kirchengemeinde, VdK usw.) einen ehrenamtlichen „Besuchsdienst“ einzurichten, der den in Frage kommenden Personenkreis aufsucht und konkrete Hilfen anbietet. Auch die sog. „Feier-Brigade“, ein Event-Veranstaltungs-Team, das für Alleinstehende Nachbarschaftsfeste zu konkreten Anlässen (oder einfach Sommer-, Garten-, Grillpartys) durchführt und so neue Kontakte und Verantwortungsbereitschaft stiftet, ist ein effektives Instrument zur direkten Belebung von Nachbarschaften. So lässt sich – auch in Problem-quartieren – die Tendenz zur Ausgrenzung der Einsamen aufbrechen.


Nachtrag: Nachbarschaftsportale

Neuerdings treffe ich im Internet vermehrt auf Portale, die sich die Mobilisierung von Nachbarschaftsquartieren zur Aufgabe gemacht haben. So ganz unproblematisch scheint das aber nicht zu sein, wie dieser Eintrag unter http://www.niriu.com/ erkennen lässt. Das "enorm-magazin" berichtet von gewissen Startschwierigkeiten. Doch nach holprigem Beginn soll es jetzt richtig losgehen.

Die Gründerszene hat die neue "Geschäftsidee", die z.B. in den USA bereits etabliert ist, begierig aufgegriffen. Allerdings sind manche "Startups" lediglich US-Filialen: So kommt der Hood-Konzern mit seinem "Nextdoor"-Label nach Deutschland.


Konkurrenz gibt es von "Nebenan.de", "WirNachbarn" und "Nachbarschaft.net", die alle zwischen November 2014 und Dezember 2015 gestartet sind. "Online wird die Stadt zum Dorf", berichtet Spiegel Online. Der Kölner Stadtanzeiger sieht bereits ein "Duell der Nachbarschaftsnetzwerke" heraufziehen. Bereits kurz nach der Startup-Phase gibt es bereits die erste Übernahme. "WirNachbarn" ist damit bereits Geschichte.

Auch die Immobilienwirtschaft bietet Hilfen an, um Wohnquartiere per "Nachbarschaftsportal" attraktiver zu gestalten und mit dem Wohnwert auch den Mietpreis zu heben. "Nachbarschaften pflegen mit einem Nachbarschaftsportal" fordert z.B. die Firma aareon seit 2015.

Doch wo der wirtschaftliche Vorteil lockt, lauert hinter dem vermeintlich guten Zweck oft der Kommerz. Heise.de warnt vor "Social engineering mit der Nachbar-schaftsmasche" .

Doch es geht auch ohne Geschäftemacherei und den raffgierigen Homo oeconomicus. In Nordrhein-Westfalen gibt es seit dem Jahr 2016 sogar eine staatlich geförderte Quartiersakademie, zu deren Aufgaben ausgeführt wird:

Die „Quartiersakademie Nordrhein-Westfalen“ stärkt seit Jahresbeginn 2016 zivilgesellschaftlich im Quartier engagierte Menschen und Initiativen und qualifiziert sie bei der Gestaltung ihrer Quartiere zum Akteur und Mitgestalter. In der Quartiersakademie NRW begegnen sich ehrenamtlich engagierte Bürgergruppen auch mit Profis aus Kommunen, Wohnungswirtschaft, Wohlfahrtsverbände oder im Quartier engagierten Unternehmen und Institutionen.

Die vom Ministerium für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr angestoßene und geförderte „Quartiersakademie Nordrhein-Westfalen“ legt damit die Grundlage für ein „Netzwerk für bürgerliches Engagement im Quartier“. Mit der Durchführung der Quartiersakademie NRW wurde die Landesgesellschaft NRW.URBAN beauftragt.

In einem zweijährigen Modellprojekt "Bürger vernetzen Nachbarschaften" lernen Bürger derzeit, digitale Medien bei der Entwicklung ihrer Nachbarschaftsquartiere einzusetzen.

Und mal ganz ehrlich: Wo das Internet selbst zu Lebenspartnern oder dem schnellen Körper-kontakt auf dem Parkplatz verhilft, sollte die Aufnahme nachbarschaftlicher Beziehungen von Mensch zu Mensch über ein Nachbarschaftsportal doch kein Problem darstellen, oder?


Ulrich Lange

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